Die Apokalypse fiel heuer aus

Mit dem Oktoberfest ist ein Bisschen so wie mit Weihnachten. So wie die ersten Lebkuchen schon Monate vor dem eigentlichen Ereignis in den Supermärkten materialisieren, werfen die ersten Festzeltaufbauten empfunden ab Anfang Mai die Schatten des Unausweichlichen voraus.

Bis dato war mir das einigermaßen Jacke wie Hose. In Laim bekommt man vom Oktoberfest im Großen und Ganzen nur die mit Feiervolk maximal vollgestopfte U-Bahnen mit. Dementsprechend habe das muntere Treiben in den letzten Jahren weitgehend ignoriert. Aber da wohnte ich ja auch noch keine fünf Gehminuten von der Theresienwiese entfernt. „Ignorieren“ war in diesem Jahr folglich eher nicht drin.

Wie beim eingangs erwähnten Weihnachtsfest wird mit zunehmender terminlicher Nähe des Events an Tempo zugelegt. Die Fahrgeschäfte für die Todesmutigen sind in maximal einer Woche aufgebaut, ähnlich lange dauert das Verrammeln des Stadtteils, welchen man vor den Wiesn-Besuchern (vornehmlich den Parkplatz-Suchenden) zu schützen versucht. Beinahe jede Straße wird durch geschicktes Platzieren von Betonblöcken (manchmal auch in der hübsch anzusehenden Ausprägung „Blumenrabatte“ anzutreffen) in Sackgassen verrammelt, vor höher frequentierten Geschäften zieht Wachpersonal auf. Der Hauptfußwege des Partyvolkes von der Hackerbrücke zur Wiesn (der übrigens keine 100 Meter von meiner Wohnung entfernt „meine“ Straße kreuzt) wird weitgehend für den Verkehr gesperrt. Sämtlichen Haushalten wird ein größerer Flyer zugestellt, der in buntesten Farben und partiell wirren Grafiken das Verkehrskonzept für die kommenden Wochen erläutert. Das kann man sich allerdings bei Bedarf auch von den Heerscharen an Polizisten erklären lassen, von denen es seit beginn der Festivität nur so wimmelt. Elmenau? War vermutlich nur der Problelauf zur Wiesn 2015.

Rechtzeitig zum ersten Wiesn-Wochenende veröffentlich die SZ den Artikel „Die Apokalypse vor der Haustür„, der, obgleich durchaus amüsant zu lesen, nicht unbedingt dazu geeignet ist, mich den kommenden knapp drei Wochen entspannt entgegenzusehen zu lassen. Ebensowenig die Äußerung des geschätzten Vormieters, zu Wiesn-Zeiten bekäme man bei uns im Parkahaus so ziemlich alles sehen. Menschen, die auf Motorhauben schlafen, andere die sich über Kotflügel erbrechen. Alles, was das Herz so begehre, mit ein Bisschen Glück sei auch das eine oder andere kopulierende Paar dabei.

Herrje, was würde da wohl auf mich zukommen? Würde ich morgens vor dem Hoftor über davor ausnüchternde Australier stolpern? Würde man dem über allem wehenden Geruch von frisch erbrochenem Gerstensaft einigermaßen überdecken können? Wievielen Pfützen frisch reversierten Mageninhaltes würde ich auf dem Weg zur S-Bahn Richtung Büro umkurven müssen? Habe ich Chancen, jemals wieder in „mein“ Parkhaus reinzukommen, das dummer Weise auch das Hauptparkhaus an der Theresienwiese ist? Würde ich nachts ein Auge zubekommen oder würden die herummarodierenden Betrunkenen jeden Schlafversuch schon im Keim ersticken? Fragen über Fragen. Ja, meiner ersten Wiesn als Anwohner sah ich nur bedingt gelassen entgegen.

Unmittelbar vor dem letzten Festwochenende zog ich’s allerdings vor, die Stadt zu verlassen. Mehr geplant urlaubend, weniger vor den Massen fliehend. Inzwischen zurück, wird es Zeit für mein persönliches Fazit. Und das fällt ziemlich erstaunlich aus: Mir wird sie fehlen. Und das, obwohl ich in Summe keine fünf Stunden auf ihr verbracht habe und es ja gemeinhin nicht so habe mit den Volksfesten.

Ja, die Dirndl-Lederhosen-Horden haben einen gewissen Nerv-Faktor. Ja, der Anblick von frisch Erbrochenem ist nicht geeignet,  den eigenen Appetit zu steigern. Meine erste Begegnung damit hatte ich übrigens grob geschätzt nach etwa vier Stunden am Eröffnungssamstag auf den Treppen vor dem hiesigen Spielzeuggeschäft. Die Erzeugerin derangiert darüberkauernd. Und, ja, so spätestens ab Tag drei fällt einem die recht erhebliche Frequenz martinshornspielender Krankenwagen ein Wenig auf den Wecker, andererseits gewöhnt man sich daran. Ebenso wie ich mich daran gewöhnt habe, dass der Rückweg von der S-Bahn nur noch spazierend zurückgelegt werden kann, da aufgrund der Fußgängermassen an eine Fortbewegung per Rad oder Roller nicht zu denken ist.

Dagegen stehen aber auch etliche Punkte auf der Haben-Seite. Ich habe Schwanthalerhöhe nie so sauber erlebt, wie zu Wiesn-Zeiten. Zumindest morgens, nachdem die Reinigungstrupps mit ihren Kehrmaschinen und Dampfstrahlern ihre Arbeiten abgeschlossen und die deutlich sichtbaren Reste des vergangenen Tages entfernt haben. Hat vermutlich was von Sisyphos. Auch an das Weniger an Durchgangsverkehr und den gesperrten Bavariaring gewöhnt man sich sehr schnell. Dürfte aus meiner Sicht gern eine Dauereinrichtung werden.

Das Wichtigste jedoch ist, dass für drei Wochen eine gewisse Ausgelassenheit und Leichtigkeit einkehrt, die ansonsten weit weniger erkennbar ist. Auf dem Weg zwischen Hackerbrücke und Wiesn finden sich Musikanten ein, Verkaufsstände werden aufgebaut, manche Büros auf der Straßenebene werden in Kioske umfunktioniert, die Eine oder Andere Sonderaktion wird gestartet. So öffnet Beispielsweise die neben der Theresienwiese stehende Kirche St. Paul ihren Kirchturm, von dem man aus einen wunderbaren Blick über die Stadt und die Theresienwiese hat. Über allem Alltag schwebt deutlich wahrnehmbar eine latent entspannte Stimmung.

Nein, keine Betrunkenen vor der Eingangstür. Keine Urin-Lachen an meinem Autoreifen, keine grölenden Horden, die durch die Straßen wanken. Zumindest habe ich davon nicht allzuviel mitbekommen. Was natürlich, dessen bin ich mir durchaus bewusst, auch an meiner Wohnlage im Hinterhaus liegt. Schlafen bei offenem Fenster funktioniert problemlos, keine Dauerblasmusik im Hintergrund. Sollte bei Gelegenheit wohl mal nachfragen, wie das ganze aus dem Vorderhaus heraus erlebt wird.

Und was fängt man nun mit ihr an, der Wiesn vor der Haustür? In meinem Fall: herzlich wenig. Am Eröffnungswochende mal am Rande vorbeischauen, den Füllstand des Ausnüchterungshügels recherchieren. Einen Spaziergang zur Bavaria machen, von oben auf das Gewimmel herunterschauen. Mal mit einem Bekannten drüberschlendern und Bilder machen, da Volksfeste als Motive einfach fein sind. Ein Abendessen mit Freunden im Zelt auf der Oidn Wiesn einnehmen (zweifellos das mutigste Abenteuer, denn dazu muss man ja eine jener Parallelwelten betreten, die man auf dem Papier auch als „Festzelt“ bezeichnet. „Hort des Irrsinns und gruseliger Lärmuntermalung“ trifft es eindeutig besser). Das genügt eigentlich. Die restliche Zeit kann man wunderbar damit verbringen, dem Publikum zuzusehen. Ob rausgeputzt, aufgekratzt und zielstrebig (Hinweg) oder partiell derangiert, nicht selten schwer alkoholisiert und schwankend (Rückweg). Etwas zu sehen gibt es eigentlich immer. Wäre ich Soziologe und nicht ITler geworden, böte mir die Veranstaltung definitiv Potential für allerlei Sozialstudien. So lasse ich einfach die Studien weg und genieße die Stimmung.

Merkwürdig, eigentlich. Als ich noch in Laim wohnte, fiel mir die Wiesn-Zeit eher lästig, da meine U-Bahn-Linie durch die vielen Besucher häufig vollkommen verstopft bis unbenutzbar war. Heute, als Anwohner, finde ich die Veranstaltung plötzlich viel attraktiver.

Um ehrlich zu sein: ich freu mich auf die Wiesn 2016.

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