Und plötzlich ist alles anders

Eines vorweg: Dieser Artikel hier könnte sich ziemlich euphorisch anhören. Nein, er hört sich vermutlich nicht nur so an, er ist es. Weil ich ziemlich baff bin.

Am Mittwoch habe ich mir zum ersten Mal Enbrel in den Oberschenkel gespritzt. Mit reichlich Respekt. Eigentlich war der Moment, in dem ich den Pen an meinen Oberschenkel gesetzt habe und dem Finger auf den Auslöser hatte ziemlich komisch. Eine Mischung aus Angst (Wird es weh tun? Werde ich ab morgen unter fiesen Nebenwirkungen leiden? Entzündet sich der Einstich?), Hoffnung (Werden die Schmerzen weggehen? Werde ich zukünftig drauf verzichten können, mir haufenweise Ibuprofen zu verabreichen?) und Unsicherheit (Will ich das jetzt wirklich machen? Stehen die Risiken in einem vernünftigen Verhältnis zu den positiven Aussichten?). Ein ziemliches spontanes Gefühlschaos. Ich hab dann auch ein Minütchen gebraucht, ehe ich mich getraut habe, den Knopf dann auch zu drücken.

Das Spritzen selber stellte sich als harmlos heraus. Ich habe den Einstich noch nicht mal richtig wahrgenommen – nach nicht mal zehn Sekunden war der ganze Prozess schon vorbei. Und davor hatte ich Respekt oder gar Angst?

Was danach passierte, lässt mich aktuell permanent staunen…

Zunächst passierte natürlich gar nichts. Außer, dass die Unsicherheit wieder da war, mir gerade einen Wirkstoff gespritzt zu haben, der eben durchaus auch ein paar eher ärgerliche Effekte haben könnte. Aber schon am Donnerstag war etwas anders. Als ich da meine morgendliche Gymnastikrunde durchgezogen habe, habe ich bemerkt, dass es sich anders anfühlt. Es ging leichter. Die Punkte, an denen gewöhnlich irgend ein Muskel begann zu ziehen, waren weniger. Und meinen Kopf konnte ich auch etwas weiter drehen als sonst.

Nächstes Aufmerken am Abend, nach zwei Stunden Autofahrt von Stuttgart nach München. Ich konnte aussteigen und einfach so loslaufen. Klingt komisch – aber normalerweise bin ich nach solch langen Sitz-Phasen erstmal für ein paar Schritte sehr krumm durch die Gegend gestackst, ehe ich wieder einigermaßen aufrecht war. Und weh getan hat eigentlich auch nichts. Müsste erfahrungsgemäß abends aber der Fall sein. Und ich war nur ein ganz klein wenig krummer als am Morgen (das merke ich immer bei einer Gymnastikübung, bei der ich meinen Hinterkopf auf den Boden bekommen sollte. Bis vor ein paar Wochen grundsätzlich undenkbar, seit der vielen Gymnastik wenigstens morgens erreichbar. Und jetzt ging das fast auf Anhieb plötzlich auch abends. Nicht sofort, aber nach drei kurzen passenden Übungen für die Halswirbelsäule).

Endgültig fasziniert bin ich seit heute Morgen. Ich bin gestern Abend ins Bett geklettert, ohne mal mindestens 400mg Ibuprofen zu nehmen. Es war ein Versuch. Tagsüber vollkommen schmerzfrei, warum also nicht probieren, ob das auch nachts der Fall sein könnte? Bis letzte Woche ein absolut aussichtsloses Unterfangen – ich wäre spätestens um drei wach gewesen und hätte mich dafür verflucht, eben keine Medikamente genommen zu haben.

Nicht so heute. Ich wache um halb neun auf – und mir tut nichts weh. Ja, ich brauche zwei, drei Minütchen, bis alle Muskeln mitspielen wollen und alles einmal kurz durchgedehnt ist – aber da sind keine Schmerzen. Zumindest nichts, was ich als „Schmerzen“ definieren würde.

Für euch mag sich das jetzt ziemlich banal bis merkwürdig anhören. Für mich ist das ein A-ha-Erlebnis nach dem Anderen. Und etwas, das ich in der Form nicht kenne. Ich könnte mehr oder weniger vor Freude heulen.

Gestern Abend in der Kälte auf dem Weihnachtsmarkt zu stehen, ohne dass sich der halbe Rücken zusammenzieht und ich mich kaum bewegen kann. In ungünstigen Haltungen auf dem Bett lümmeln und danach nicht für eine ganze Weile bewegungsunfähig zu sein bzw. durch die Gegend zu laufen wie der Glöckner von Notre Dame, ehe die Bewegung dazu führt, dass ich mich wieder einigermaßen aufrichten kann. Auch nach einem Tag auf den Beinen den Kopf noch ziemlich weit in den Nacken legen zu können. Das sind Dinge, die ich so nicht kenne. An die ich mich auch nicht mehr erinnern kann.

Ich habe es mal kurz überschlagen: Die Bechterew-Diagnose habe ich ’99 bekommen, seit dem lebe ich mehr oder weniger nicht mehr ohne Schmerzmittel, mal mehr, mal weniger. Teilweise waren es 1200mg Ibuprofen am Tag. Aus dem Bauch würde ich schätzen, dass ich gemittelt täglich etwa 600mg genommen habe. 600mg * 365 Tage * 14 Jahre. Das wären -richtige Bedienung des Taschenrechners vorausgesetzt- 3066000 Milligramm, also 3,066 Kilo. Reines Ibuprofen. In 14 Jahren. Selbst wenn die Schätzung etwas hoch gegriffen sein sollte, dürfte die korrekte Zahl immernoch imposant genug sein. Jetzt, wo ich das so lese, bekomme ich fast Angst und wundere mich, dass mein Magen das völlig problemlos mitgemacht hat.

Und nun sitze ich hier und nehme eben kein Ibuprofen mehr. Von gestern auf heute. Einfach so. Und kann mich bewegen. Den ganzen Tag. Natürlich nach wie vor reichlich eingeschränkt, aber eben ohne Rückenschmerzen und ohne weitere Medikamente. Ich weiß nicht, ob ihr euch vorstellen könnt, wie sich das für mich anfühlt. Irgendwas zwischen Unglauben und schrei-vor-Glück!

Fühlt sich irgendwie ein Bisschen unwirklich an und ich möchte spontan alles und jeden umarmen, der mir über den Weg läuft. Und der Firma Pfizer ein spontanes Dankesschreiben schicken. Ja, das Medikament ist unverschämt teuer (kleine erfreuliche Randnotiz: meine Apotheke kann die Kosten in Zukunft direkt mit der Krankenkasse abrechnen, so dass ich die doch recht ansehnlichen Beträge nicht mehr vorfinanzieren muss). Ja, ich weiß nicht, wie ich das dauerhaft vertrage. Ich habe keine Ahnung, ob nicht doch irgendwann böse Nebenwirkungen auftreten. Ich weiß nicht, ob die Wirkung irgendwann nachlässt – aber mal ganz ehrlich: mir ist das im Moment sowas von -nuja- scheißegal!

Ich bin spontan zum Befürworter der medizinischen Gentechnik geworden, denn der verdanke ich das, was hier gerade passiert. Auf dem Papier liest es sich eigentlich ganz einfach: Mein Körper produziert zu viel TNF-Alpha, das von den normalen TNF-Rezeptoren nicht mehr gebunden werden kann. Diese Rezeptoren verhindern normalerweise, dass TNF-Alpha an Zellen andocken kann und dort anfängt Entzündungen zu fördern. Enbrel tut nun im Grunde das Gleiche wie die körpereigenen Rezeptoren – es bindet eben das überschüssige TNF-Alpha. Als Folge daraus müssten meine Entzündungen zuerst langsam verschwinden und dann eben irgendwann ganz weg sein. Genau das wird nun über regelmäßige Bluttests überwacht. Der erste Test folgt in eineinhalb Wochen – da müssten die Entzündungswerte in meinem Blut schon merklich gesunken sein. In Abhängigkeit von den Testergebnissen kann man dann irgendwann auch entscheiden, ob ich mich wirklich wöchentlich spritzen muss, oder auch andere Zeiträume in Frage kommen. Dem sehe ich aktuell völlig tiefenentspannt entgegen.

Nichts desto trotz wird die Behandlung mit Enbrel mein Leben an manchen Ecken auch etwas komplizierter gestalten: Ich brauche beispielsweise ärztliche Bestätigungen, um das Medikament (Spritze! Gefahr! Potentieller Terror!) in Flugzeuge mitnehmen zu können, denn in den Frachtraum darf es nicht, da es nicht einfrieren darf. Kein Problem, man muss dies aber im Vorfeld der Fluggesellschaft melden. Ebenso darf man es ohne größeren Aufwand in manche Länder nicht einfach einführen. Darüber hinaus muss ich das Medikament vor Operationen absetzen und ich sollte einen entsprechenden Ausweis mit mir herumtragen, aus dem entnommen werden kann, dass ich damit behandelt werde (Stichpunkt medizinische Notfälle / Unfälle). Und ich muss eben diverse Vorsorgeuntersuchungen einhalten. Einmal jährlich Hautarzt (erhöhtes Hautkrebsrisiko), ich sollte mich gegen so ziemlich alles impfen lassen, gegen das man sich impfen lassen kann (Risikoreduktion) – darf im Gegenzug aber keine Lebendimpfstoffe bekommen (das ist bei manchen Impfungen gegen Tropenkrankheiten der Fall). Ich sollte bei Infektionen sofort zum Arzt rennen und nicht erst ein paar Tage abwarten.

Aber das lässt sich sicher alles recht einfach organisieren, ich werde mich dran gewöhnen. Und, ganz ehrlich: Gemessen an dem, was ich hier gerade erlebe, scheint mir das ein Aufwand zu sein, den es mehr als wert ist.

Wollen wir mal hoffen, dass ich das in ein paar Wochen auch noch behaupte.

Genug für heute, ich gehe mich jetzt irgendwo freuen wie ein Honigkuchenpferd :-)

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